Kammermusik als Qualitätsgarant?


Seit vielen Jahren beschäftigt mich die Frage, ob und wieweit es für einen Klangkörper von Vorteil, ja sogar eine Qualitätssteigerung sein kann, wenn innerhalb des Orchesters viel Kammermusik gemacht wird. Sei es untereinander, aber auch ganz allgemein. Im Gespräch mit Sophia Herbig, der Stimmführerin der 2. Geigen, und Solooboistin Sasha Calin konnte ich dieser Frage auf den Grund gehen und durfte völlig ungeahnte Aspekte kennenlernen.

 

Wie wichtig ist für euch Kammermusik innerhalb des Orchesters?

Sophia Herbig  Viele MusikerInnen und auch DirigentInnen verfolgen das Ideal des Orchesterspiels als Kammermusik – eben im ganz großen Rahmen. Das ist auch meine Vision! Kammermusik wirkt sich dementsprechend sicher nur positiv auf das Zusammenspiel im Orchester aus.

 

Sasha Calin Kammermusik im Großen ist auf jeden Fall ein schönes Ziel. Idealerweise würde es so funktionieren. Allerdings, aufgrund der großen Distanzen auf der Bühne, ist es manchmal schwer. Wir können nicht so direkt reagieren, wie in einer kleinen Besetzung. Hauptsache ist das Zuhören! Wenn wir eine Zeit lang „nur“ im Orchester spielen, dann verlieren wir leicht mal das „Wach sein“, das genaue Hinhören. Und deshalb ist es gerade wichtig, dass wir regelmäßig Kammermusik machen, um die Ohren wieder zu schärfen.

 

Sasha Calin, Koordinierte Solooboistin ©Erika Mayer

 

Können wir Kammermusik als eine Schule des Hörens verstehen?

Sasha Calin Ja, schon. Bei der Kammermusik MUSS man zuhören. Intonation, Zusammenspiel, gemeinsames Phrasieren, Harmonie und Reaktion – alles braucht das genaue Zuhören. Das alles gibt es natürlich auch im Orchesterspiel, aber da haben wir auch die Hilfe des oder der DirigentIn (lacht). Da ist die Verantwortung des Einzelnen eine ganz andere.

 

Sophia Herbig Für mich ist dieses unmittelbare Reagieren aufeinander in der Kammermusik wahnsinnig schön. Gerade das Gefühl der Eigenverantwortlichkeit, das persönliche Gestalten, das Setzen und Aufgreifen von Impulsen und auch mal in Widerstand treten – Reibungsfläche erzeugen – ist sehr spannend und bereichernd. Und als KammermusikerIn tritt man direkt miteinander in Kommunikation, ist am Gestaltungsprozess viel unmittelbarer beteiligt. Ich denke, dass sie nicht nur eine Schule des Hörens, sondern der Sensibilisierung und Differenzierung ist.

 

Zu den Themen Gestaltungsprozess und Individualität: Oboen sind ja schon anzahlmäßig viel weniger als 2. Geigen. Macht das einen Unterschied?

Sophia Herbig  Klar gibt es Unterschiede! Selbst wenn vier Oboen zusammen in einer Gruppe spielen, hat doch jede(r) auch seine Einzelstimme. Aber in den 2. Geigen mit – bei großen Besetzungen – 12, 14 Personen ist es fast unmöglich, zu allen Kontakt zu halten. Das geht schon aufgrund der Distanz gar nicht. Wir spielen zu vierzehnt eine Stimme. Da bleibt nur eingeschränkt Raum für Individualismus. Auf der anderen Seite ist es wunderbar, in diesem Klangmeer aufzugehen, ein Teil von etwas Größerem zu sein. Und das Größere wird geschaffen und lebt von den Einzelpersonen. Es ist also immer eine Frage der Balance zwischen Gruppendynamik und Eigenverantwortlichkeit.

 

Ist es so, dass du, Sophia, um die Distanz zu überwinden, anders spielst, dass deine Bewegungen größer werden, sodass dich auch die KollegInnen am letzten Pult noch sehen können?


Sophia Herbig Sicherlich ist es ein Teil meiner Position als Stimmführerin, eine Klarheit darzustellen, auch durch meine Körpersprache, so dass wir als Gruppe zu einer Einheit finden können. Ich denke aber nicht, dass meine Bewegungen tatsächlich größer sind, als in der Kammermusik. Eher anders! Bewusster anzeigend vielleicht.

 

Sasha Calin Zum Thema Individualität möchte ich gerne etwas hinzufügen: je nachdem welche Position man im Orchester hat, oder welche musikalische Rolle man bei einer gewissen Stelle einnimmt, darf man mehr oder weniger Persönlichkeit und Individualität zeigen. Solooboe ist eine exponierte Stelle im Orchester, und man darf oder soll eine gewisse Individualität zeigen, vor allem bei den Soli. Für Tutti Streicher ist das anders und ich kann absolut den Frust nachvollziehen, wenn man in der Gruppe die eigene Persönlichkeit nicht zeigen darf. Deshalb finde ich es so wichtig dass jeder Kammermusik spielt, denn da dürfen die Ideen sprudeln und jeder kann aktiv mitsteuern. 

 

Sophia Herbig Andererseits bin ich überzeugt davon, dass eine Gruppe von persönlichem Comittment lebt und durch die unterschiedlichen Charaktere und Stärken, die jede/r mitbringt, erst reich und lebendig wird. Ich bin absolut dafür, dass sich jeder einbringen darf – innerhalb eines gewissen Rahmens des Möglichen.

 

Sophia Herbig, Koordinierte 1. Stimmführerin 2. Violine  ©Erika Mayer

 

Gibt es Unterschiede in der Kommunikation beim Orchesterspiel und in der Kammermusik?

Sophia Herbig Das ist für mich ein ganz wichtiges Thema – generell und auch innerhalb der Kammermusik – die Kommunikation! Als Kammermusik-Gruppe hat man natürlich die volle Verantwortung für den gesamten Prozess, bis hin zum Konzert. Da kommt man nicht umhin, sich auch mal gegenseitig zu kritisieren, oder Vorschläge kontrovers zu diskutieren. Das sollte aber alles ausschließlich im konstruktiven Rahmen stattfinden! Deshalb ist Kammermusik für mich eine hervorragende Schule in Kommunikation, zum Bsp. auch darin Konflikte anzusprechen. Diese Fähigkeit empfinde ich auch für das Orchesterleben als enorm wichtig.

 

Sasha Calin Kammermusik öffnet Kommunikationskanäle zwischen Orchestermitgliedern, die sonst vielleicht nicht so viel mit einander zu tun hätten. Wenn es innerhalb eines Orchesters viele Kammermusik-Ensembles gibt, dann ist das eine schöne Gelegenheit, KollegInnen neu und oft auch ganz anders kennenlernen zu können. Musikalisch, kommunikativ, aber auch in Hinblick auf Konfliktlösung. Das ist eine Möglichkeit in die Tiefe zu gehen und u.a. erfahren zu können, warum wir überhaupt Musik machen oder wie wir am liebsten spielen möchten. Dafür sind auch Projekte, bei denen das Mozarteumorchester in kleineren Formationen auftritt, prima. Wir haben so fantastische MusikerInnen im Orchester und, durch das Spielen in kammermusikalische Besetzungen, können wir uns besser kennenlernen und das Können von den Kollegen neu wahrnehmen. Gegenseitiger Respekt ist so wichtig, denn gute Ideen haben sicherlich alle!

 

Sophia Herbig Ja, stimmt. Wenn ich beispielsweise gemeinsam mit Kollegen Kammermusik mache, erlebe ich eine tolle Möglichkeit, die anderen besser kennenzulernen. Das eröffnet neue Perspektiven. Übrigens, Benjamin Zander, Dirigent, hat ein Buch zum Thema positives Denken bzw. Denken in Möglichkeiten und Leadership geschrieben, bei dem es u.a. darum geht, dass sich jeder einzelne in der Gruppe wertgeschätzt und wahrgenommen fühlt. Er spricht zum Beispiel während eines Projekts mit vielen MusikerInnen, hört sich die verschiedensten Auffassungen an und lässt sie dann zum Teil auch in seine Interpretation mit einfließen. Er sieht es so, dass er lauter SpezialistInnen vor sich hat, greift diese unterschiedlichen Erfahrungen auf und fühlt sich dadurch selbst bereichert.

 

Das ist sicher ein schöner Ansatz, der aber auch viel Mut erfordert. Da muss man mental und psychisch sehr stabil im Leben stehen. Das ist bestimmt auch etwas, Sasha, das eine Solooboe können muss, oder?

Sasha Calin Ja! Mit diesem exponierten Instrument, da muss man mental schon sehr stabil sein. Diese Stärke ist eine Riesen-Komponente in unserem Beruf und muss einen größeren Platz einnehmen können. Da müssen die jungen KollegInnen, die diese Stabilität vielleicht nicht sofort haben, Unterstützung bekommen und sich Hilfsmittel suchen, die sie dabei in ihrer Entwicklung fördern. 

Sophia Herbig Natürlich ist das auf den Solo-Positionen ein großes Thema, aber auch im Orchester ist der Leistungsdruck unter den Kollegen nicht zu unterschätzen. Das ist manchmal gar nicht so einfach!

 

Sasha Calin Wahrscheinlich würde es helfen, wenn wir mit den KollegInnen, zu denen wir noch nicht so einen Draht haben, Kammermusik spielen würden. Dass man sich in einem anderen Rahmen kennenlernen kann und sich offener begegnen kann. Das würde vielleicht fördern, die Kommunikationskanäle durch das ganze Orchester offen zu halten und auch zu verbreiten.

 

Sasha Calin ©privat

 

Ist es ein Auswahlkriterium bei der Bewerbung um eine Orchesterstelle, dass man sich vorab informiert, ob es Kammermusik-Ensembles innerhalb des Orchesters gibt?

Sasha Calin Vielleicht, aber ich muss auch zugeben, dass es oft die pragmatischen Dinge sind, die zu diesen Entscheidungen führen. Aber, schön, wenn es dann zutrifft! Viel Kammermusik ist immer ein gutes Zeichen für ein Orchester. Eine eigene Reihe, wie „Viertel nach Acht“ [Neuer Titel: „Heimspiel Kammermusik“], ist dafür ein geeignetes Beispiel. Das hat allen gutgetan. Ich persönlich kenne keinen Musiker, der nicht gerne Kammermusik machen möchte.

 

Sophia Herbig Für mich persönlich steigert das die Attraktivität eines Orchesters ungemein.

 

Wenn du, Sophia, Kammermusik spielst, was ist das dann – 1. Oder 2. Geige?

Sophia Herbig Ganz gemischt, und auch das finde ich enorm wichtig! Ich empfinde es wirklich als herausfordernd, 2. Geige zu spielen – denn die ganze Ausbildung ist auf 1. Geige hin ausgerichtet. Immer Melodiestimme… Gerade in der Klassik sind wir 2. Geigen oft Bindeglied zwischen Bass- und Melodiegruppe und nehmen eine pulsgebende Funktion ein. Musikalisch gesehen ist es für mich fast die schwierigere Stimme. Antennen ausfahren, zuspielen, Rollenwechsel, Stabilität und gleichzeitig Reaktionsvermögen. Das empfinde ich als sehr anspruchsvoll und fordernd.

 

Sasha Calin Vielleicht solltet ihr mal tauschen – die 1. Geigen switchen zu den 2. Geigen?!

 

Sophia Herbig Als Akademistin im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks habe ich ständig gewechselt, da haben wir beide Stimmen gespielt. Das hält unglaublich frisch und lässt einen die Musik auf einer tieferen Ebene erfahren. Die Anforderungen an die beiden Stimmen sind sehr unterschiedlich und es ist schön, vielseitig gefordert zu sein.

 

Sasha Calin Hier kommen wir zum Thema Flexibilität, was Kammermusik fördert. Zum Beispiel, bei Bläserquintett Literatur kommt es oft vor, dass eine wunderschöne Melodie abgelöst wird von einer tiefen Begleitungsfigur, die aussieht wie eine 2. Klarinette oder Horn Stimme! Diese Flexibilität brauchen wir auch im Orchester, da unsere Aufgabe immer schnell wechselt. Ganz toll ist natürlich auch der Literaturwechsel, den Kammermusik mit sich bringt. Zum Beispiel Bach. In all den Jahren am Mozarteumorchester habe ich kaum (wenn überhaupt?) ein Werk von Bach gespielt.

 

Sophia Herbig, Sasha Calin, Juliane Breyer  ©Juliane Breyer

 

Sicherlich bereichert aber auch euer Wirken im Orchester euer solistisches- bzw. kammermusikalisches Spiel?

Sophia Herbig Generell sind die unterschiedlichen Erfahrungen, die wir im Orchester sammeln dürfen, eine große Bereicherung. Es gibt einige Impulse oder bestimmte Themen, die ich durch verschiedene DirigentInnen mitbekommen habe, mit denen ich mich bisher im Studium oder meinem bisherigen Werdegang noch nicht auseinandergesetzt habe. Diese neuen Prägungen und Anregungen schlagen sich natürlich auch auf mein Spiel, im Orchester wie auch in der Kammermusik, nieder. Ein schönes Wechselspiel! Mein Wunsch ist es, mich ständig weiterzuentwickeln, Grenzen zu verschieben. Da sind neue Einflüsse, Austausch und auch Herausforderungen immer herzlich willkommen!

 

Sasha Calin Was für mich immer klarer wird, ist, dass für jeden von uns Balance wichtig ist. Hier im Mozarteumorchester haben wir Oper und Symphonik, Barock und Moderne, Spannung und Entspannung, Mozart und Widmann. Das Orchesterspielen und Kammermusik ist ein weiteres Beispiel von Dichotomie, die wir für ein erfülltes musikalisches Leben brauchen.

 

Das Interview führte Juliane Breyer.